40 Jahre Theodor-Lessing-Haus

Neben dem Wilhelm-Grunwald-Haus am Standort Technik/Naturwissenschaften, das nach dem Gründungsdirektor der TIB benannt wurde und unter anderem das Hochschulbüro für Internationales beherbergt, ist noch ein zweites Gebäude mit dem Namen einer Person verknüpft. Seit 40 Jahren trägt das Gebäude am Standort Sozialwissenschaften den Namen Theodor-Lessing-Haus.

Am 6. Juli 1983 fasste der Senat der Universität Hannover auf Antrag der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften und des Fachbereichs Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften einstimmig den Beschluss, aus (…) „Anlaß der 50. Wiederkehr des Tages der Ermordung von Prof. Theodor Lessing, ehemals Professor an unserer Universität, durch nationalsozialistische Täter (…) das ‚Studentenhaus‘ (Fachbereichsbibliothek Sozialwissenschaften und ASTA) in ‚Theodor-Lessing-Haus‘“ umzubenennen. (1.)

Im Jahr zuvor war das 1953 fertiggestellte Gebäude, in dem sich unter anderem auch die Mensa befunden hatte, „denkmalpflegerisch renoviert“ worden.

Theodor Lessing wurde am 8. Februar 1872 in Hannover geboren. (2.) Er habilitierte sich 1908 für die Fächer Pädagogik und Philosophie an der Technischen Hochschule Hannover. Als Privatdozent und Professor äußerte sich der jüdische Gelehrte in zahlreichen Vorlesungen und Publikationen zu unterschiedlichen kulturellen und politischen Themen und wurde „in den 1920er Jahren (…) mit Gerichtsreportagen vom Prozess gegen den Hannoveraner Serienmörder Haarmann 1924-1925, bei dem Lessing die wenig rühmliche Rolle einer korrupten Polizei ankreidete“ einem größeren Leserkreis ein Begriff.  Nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, der wie Lessing ebenfalls in Hannover wohnte, schrieb er einen Zeitungsartikel mit kritischem Inhalt, in dessen Folge es antisemitische Ausschreitungen an der Hochschule gab, die von der radikalisierten Studentenschaft herbeigeführt worden waren. Im Ergebnis konnte Lessing ab 1926 keine Vorlesungen mehr halten und musste sich ganz auf seine wissenschaftliche Forschung zurückziehen. Lessing emigrierte am 1. März 1933 ins tschechoslowakische Marienbad, wo er am 30. August 1933 durch ein von Nationalsozialisten verübtes Attentat schwer verletzt wurde. Er starb am 31. August 1933 an den Folgen der erlittenen Schussverletzung. (3.) Sein Todestag jährt sich 2023 zum 90. Mal.

Der zweite und ebenfalls einstimmige Beschluss des Senats der Universität Hannover vom 6. Juli 1983 unter diesem Tagesordnungspunkt lautete:

Der Senat begrüßt die Initiative des Fachbereichs Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften, eine kritische Gesamtausgabe der Werke Theodor Lessings vorzubereiten. Er bittet fachlich zuständige Fachbereiche um Mitwirkung in einem vorbereitenden Ausschuß für die Edition. Der Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften wird aufgefordert, nach Abschluß der Vorbereitungen für die Edition dem Senat zu berichten.

Die Forderung an den Senat der Technischen Universität Hannover, eine kritische Werkausgabe Theodor Lessings zu initiieren, war bereits Anfang 1972 in einer „Resolution der Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter des Psychologischen Seminars an der TU Hannover“ im Zusammenhang mit der Suspendierung des Lehrstuhlinhabers für Psychologie, Prof. Peter Brückner, erhoben worden. Brückner war 1967 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Psychologie an die TH (seit 1968 TU, seit 1980 Universität) Hannover gefolgt, wo er sich mit den Zielen der Studentenbewegung öffentlich solidarisierte und zu ihrem Protagonisten unter den Hochschullehrern wurde. 1972 gewährte er der steckbrieflich gesuchten Ulrike Meinhof (1934–1976) in seiner Wohnung kurzzeitig Unterkunft, was ihm den Vorwurf der Unterstützung der Rote Armee Fraktion und eine Suspendierung von seinem Amt für zwei Semester durch den niedersächsischen Kultusminister eintrug.  In der Resolution hieß es:

„Das Psychologische Seminar an der TU Hannover wird ab heute, dem 25.1.1972 symbolisch in „Theodor-Lessing-Seminar“ umbenannt. Der Senat der TU Hannover wird hiermit aufgefordert, eine kritische Gesamtausgabe des Werkes von Theodor Lessing zu veranlassen. Dabei soll die Hochschulgemeinschaft der TU Hannover für die finanzielle Unterstützung Sorge tragen.“ (4.)

Die im Bestand der TIB vorhandene Edition der Werke Theodor Lessings wird von Rainer Marwedel, der 1984 mit einer Dissertation über Lessing promoviert wurde und anschließend umfangreich über Lessing geforscht und publiziert hat, im Göttinger Wallstein Verlag herausgegeben.

Im Jahr 2005 fand eine Initiative des ASTA, die Universität Hannover in „Theodor Lessing Universität“ umzubenennen, keine Mehrheit. Sie heißt seit 2006 offiziell „Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover“.

Eingang ins Theodor-Lessing-Haus
Seit 40 Jahren trägt das Gebäude, in dem die Fachbereichsbibliothek Sozialwissenschaften untergebracht ist, den Namen Theodor-Lessing-Haus.

(1.)  Archiv der TIB/Universitätsarchiv Hannover, Protokoll der Senatssitzung am 6. Juli 1983.

(2.)  https://youtu.be/iaoyzCtIpjE?si=SJfx_vc6mnB23SJ5 und https://www.sueddeutsche.de/wissen/geschichte-vor-150-jahren-wurde-theodor-lessing-geboren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220206-99-997954

(3.)  Ulrike Dursthoff, Michael Pechel (Redaktion): Ada-und-Theodor-Lessing Volkshochschule. In: Netzwerk Erinnerung und Zukunft in der Region Hannover (Hrsg.): Orte der Erinnerung. Wegweiser zu Stätten der Verfolgung und des Widerstands während der NS-Herrschaft in der Region Hannover. Hannover, Eigenverlag, ohne Jahr [2007], S. 82f.

(4.)  Komitee „Solidarität mit Peter Brückner“: Resolution der Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter des Psychologischen Seminars an der TU Hannover, in: Info zur Kriminalisierung der sozialistischen Opposition in der BRD. Teach-In-Beiträge. Reden. Solidaritätsadressen. Brückner-Interview. Hannover, 15. Februar 1972. Peter-Brückner-Archiv: Signatur: Erste Suspendierung / 0000006.

... leitet den Bereich Medien- und Lizenzmanagement an der TIB und ist zuständig für die Betreuung des Gewerkschaftsarchivs, des Peter-Brückner-Archivs und der sozialwissenschaftlichen Nachlässe und Sammlungen am Standort TIB Sozialwissenschaften