Understanding the gender gap

Jährlich am 10. Dezember erfolgt die Preisverleihung der Nobelpreise sowie des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften. Im Jahr 2023 erhält die Harvard-Professorin Claudia Goldin diese renommierte Auszeichnung und wird für die „Aufdeckung der wichtigsten Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt“ ausgezeichnet, wie die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm am 9. Oktober 2023 mittteilte.

Claudia Goldin © Johan Jarnestad/The Royal Swedish Academy of Sciences

Goldin ist die dritte Frau, die mit dem Preis geehrt wird, und die erste, die diese Auszeichnung allein erhält. Elinor Ostrom erhielt 2009 als erste Frau diese Auszeichnung für ihre Analyse ökonomischen Handelns im Bereich Gemeinschaftsgüter zusammen mit Oliver E. Williamson, der für seine Analyse ökonomischen Handelns im firmeninternen Bereich ausgezeichnet wurde.  Zehn Jahre später erhielt Esther Duflo gemeinsam mit Abhijit Banerjee und Michael Kremer den Wirtschaftsnobelpreis 2019 für ihren experimentellen Ansatz zur Bekämpfung der weltweiten Armut.

Goldin erklärt in ihren Forschungen auf dem Gebiet der Genderökonomie häufig aktuelle ökonomische Phänomene aus ihren geschichtlichen Ursprüngen heraus. Bereits mit ihrer Dissertation an der Universität von Chicago setzte sie einen solchen Akzent und untersuchte die ökonomischen Implikationen der Sklaverei in den amerikanischen Städten vor dem Bürgerkrieg. In ihrem 1990 erschienen Buch „Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women“ untersuchte sie die Geschichte weiblicher Arbeit seit dem 18. Jahrhundert bis heute und deren Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum. Dabei ging sie der Frage nach, warum Geschlechterunterschiede bei der Entlohnung und Beschäftigung entstanden und bis heute bestehen.

Die Wahlmöglichkeiten von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die oft durch Ehe und Verantwortung für Haus und Familie eingeschränkt wurden und werden, stehen im Mittelpunkt der Analysen und Erklärungsmodelle Goldins, erklärte die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften bei der Bekanntgabe der Preisträgerin.

Claudia Goldin erhielt für ihre Auszeichnung viel Zuspruch. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), bezeichnete die Wahl als Weckruf für Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland für mehr Chancengleichheit. In kaum einem vergleichbaren Land sei die Lohnlücke zwischen Mann und Frau mit im Schnitt 18 Prozent so groß wie in Deutschland. Laut Achim Wambach, Präsident des Mannheimer Wirtschaftsforschungsinstitutes ZEW, und Sascha Steffen von der Frankfurt School of Finance & Management hat Claudia Goldin mit ihren Arbeiten unser Verständnis zu mehr Gleichberechtigung am Arbeitsplatz wesentlich erweitert. Besonders bemerkenswert sind ihre Erkenntnisse über das anhaltende Lohngefälle zwischen den Geschlechtern. Goldins Beiträge bilden eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen und künftige Forschungen.

Der Anteil von Frauen im Erwerbsleben von 1790 bis heute © Johan Jarnestad/The Royal Swedish Academy of Sciences

Goldin hat Daten aus den vergangenen 200 Jahren analysiert. Danach ist der Anteil von Frauen im Erwerbsleben nicht gradlinig gestiegen, sondern entspricht eher einer U-förmigen Kurve. Im Zusammenhang mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei der Anteil der berufstätigen, verheirateten Frauen gesunken. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich die Dienstleistungsgesellschaft entwickelte, stieg der Anteil der berufstätigen Frauen wieder. Als Hauptgründe für den Anstieg nennt Goldin die strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarkts, aber auch die sich langsam veränderten gesellschaftlichen Normen in Bezug auf Familie und Kinder. Besonderes Gewicht misst sie dabei der Antibaby-Pille zu. Als sie Anfang der Sechzigerjahre auf den Markt kam, hätten Frauen erstmals die Kontrolle über die Familienplanung erlangt, sagt Goldin. Viele junge Frauen hätten dadurch eine andere Berufswahl getroffen und Medizin, Jura oder Wirtschaftswissenschaften studiert.

Die Einkommennschere zwischen Männern und Frauen © Johan Jarnestad/The Royal Swedish Academy of Sciences

Doch trotz besserer Ausbildung verdienen Frauen weiterhin weniger als ihre männlichen Kollegen. Die Einkommensschere zwischen Frauen und Männern hat sich zwar verringert, besteht aber weiterhin. In Ländern mit hohen Einkommen liegt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern immer noch bei zehn bis zwanzig Prozent. Goldin hat in ihren Arbeiten außerdem gezeigt, dass die Gehälter oft bis zur Geburt des ersten Kindes ähnlich hoch sind. Doch nach der Geburt geht die Schere schlagartig auseinander. Nach Wiedereinstieg in den Beruf holen die meisten Frauen den Einkommensverlust nicht wieder auf. Goldin sieht die Ursache dafür in den Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft. Von Arbeitnehmern werde erwartet, dass sie stets erreichbar und flexibel sind. Da Frauen oft hauptverantwortlich für die Kinderbetreuung seien, werden die Chancen für Gehaltserhöhungen und Karriere behindert. Außerdem wählten viele Frauen eine Teilzeitbeschäftigung, die sich ebenfalls negativ auf die Gehaltsentwicklung auswirkt.

Goldin schlägt deshalb Informations- und Bildungsinitiativen oder Gesetze vor, die die Barrieren für eine Gleichstellung beseitigen. Doch es müssten sich auch Verhaltensweisen verändern. Laut Goldin würden Bildungsentscheidungen in relativ jungen Jahren getroffen. Sie wirkten sich dann auf die weitere berufliche Karriere aus. Die Ökonomin ist deshalb der festen Überzeugung, dass sich die Karriereplanung nicht an der Lebensweise früherer Generationen orientieren darf, schreibt das Handelsblatt.

Goldin hat uns gezeigt, wie sich die Ursachen dieses Geschlechterunterschieds auf dem Arbeitsmarkt im Laufe der Geschichte verändert haben, erklärte Randi Hjalmarsson, Wirtschafts-Professorin an der Universität Göteborg und Mitglied des Wirtschaftspreiskomitees. Und der Vorsitzende des Komitees, Jakob Svensson, ergänzte: „Durch Goldins Arbeiten verstehen wir, warum Veränderungen so lange dauern.“

Dotiert sind die Nobelpreise in diesem Jahr mit elf Millionen schwedischen Kronen pro Preiskategorie, also etwa 950 000 Euro. Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ist der einzige, der nicht auf das Testament von Dynamit-Erfinder und Preisstifter Alfred Nobel (1833-1896) zurückgeht. Er wird seit Ende der 1960er-Jahre von der schwedischen Reichsbank gestiftet und zählt somit streng genommen nicht zu den klassischen Nobelpreisen. Trotzdem wird er gemeinsam mit den weiteren Nobelpreisen an Nobels Todestag, dem 10. Dezember, feierlich überreicht. Häufig ging der Preis für Wirtschaftswissenschaften bisher an Preisträger, die aus den USA stammen oder dort tätig sind. Der bisher einzige Preisträger aus Deutschland ist Reinhard Selten, der 1994 gemeinsam mit John Nash und John Harsanyi für wegweisenden Beiträge zur nichtkooperativen Spieltheorie ausgezeichnet wurde.

ist Fachreferentin für Biologie, Gartenbau, Umwelttechnologien und Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Informationsbibliothek (TIB) und zuständig für die Ausbildungskoordinierung (höherer Dienst).