Openness im Fokus: Im Interview mit Dr. Irina Sens

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Ein Gespräch über die Bedeutung von Bibliotheken in der heutigen Zeit und warum die TIB mehr ist als eine Bibliothek.

Der 24. Oktober ist der Tag der Bibliotheken. Ein Tag, der den Blick auf die Rolle der mehr als 9.000 Bibliotheken in Deutschland lenkt, ob nun Wissenschaftliche Bibliothek, Öffentliche Bibliothek, Kinder- und Jugendbibliothek, Spezialbibliothek, Archivbibliothek oder digitale Bibliothek. Wir nehmen diesen Tag zum Anlass, um mit Dr. Irina Sens, stellvertretende Direktorin und Leitung Bibliotheksbetrieb an der TIB, über die Bedeutung von Bibliotheken in der heutigen Zeit im Allgemeinen und der TIB im Speziellen zu sprechen.

Liebe Frau Sens, gleich zu Beginn unseres Gespräches eine sehr wichtige Frage: Wozu brauchen wir noch Bibliotheken in der digitalen Welt? Sind Bibliotheken nicht überflüssig in einer Zeit, in der viele Informationen leicht über das Internet zugänglich sind?

Natürlich sind Bibliotheken auch im digitalen Zeitalter relevant, denn sie sind viel mehr als nur Büchersammlungen. Sie sind alles andere als überflüssig, denn sie sind Orte des Wissens und der Bildung. Das Internet bietet zwar unendlich viele Informationen, ist aber auch unübersichtlich und unzuverlässig. „Wir ertrinken in Informationen und dürsten nach Wissen“ – in diesem Zitat des Autors John Naisbitt wird die Problematik der Transformation von Informationen in Wissen deutlich: Informationen sind im Übermaß vorhanden, doch sind alle Informationen relevant und im richtigen Kontext dargestellt? Bibliotheken sind verlässliche Filter und ermöglichen als neutrale Instanz einen breiten Zugang zu qualitätsgeprüften Informationen in physischer und digitaler Form.

Porträtfoto von Dr. Irina Sens, die kurze braune Haare hat und eine Brille trägt.
Dr. Irina Sens, stellvertretende Direktorin und Leitung Bibliotheksbetrieb an der TIB. Foto: TIB/C. Bierwagen

Bibliotheken haben sich in den letzten Jahren – mittlerweile Jahrzehnten – verändert, haben sich in und mit der digitalen Welt weiterentwickelt. Sie sind unverzichtbar, etwa beim Thema Openness, Offenheit in der Wissenschaft. In der heutigen digitalen Welt erfüllen Bibliotheken eine entscheidende Rolle für den Zugang zu Informationen und Forschungsergebnissen für alle.

Wir setzen uns dafür ein, dass der Zugang zu allen Informationen möglich ist – zu frei verfügbaren genauso wie zu kostenpflichtigen. Aber die TIB ist eine wichtige Akteurin und auch Vorreiterin, wenn es um frei verfügbare Publikationen, Daten oder Bildungsmaterialien und um transparente und kollaborative Methoden im Forschungsprozess geht. Wir engagieren uns als öffentliches Informationszentrum seit vielen Jahren für Openness in all ihren Facetten, ob im Kontext von Open Science, Open Access, Open Data und Open Educational Resources (OER). Denn wenn Forschende ihre Ergebnisse teilen, führt das auch zu einer besseren Verbreitung von Wissen und einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler:innen.

Die TIB ist also mehr als eine Bibliothek, mehr als eine reine Büchersammlung. Welche Bedeutung hat sie in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und für die Gesellschaft?

Die TIB ist seit ihrer Gründung 1959 in vielerlei Hinsicht mehr als eine traditionelle Bibliothek. Sie ist eine Schatzkammer des Wissens: Nicht nur gedruckte Bücher und Zeitschriften, sondern auch digitale Ressourcen, Daten, Forschungsinformationen und multimediales Material wie Videos gehören zu unserem Bestand, der in den Bereichen Technik und Naturwissenschaften weltweit einmalig ist. Diese Materialien und Informationen müssen für Forschende und alle, die es interessiert, bereitgestellt werden. Diese Ressourcen sind von entscheidender Bedeutung für Forschende, Studierende und auch für Wirtschaft und Industrie – sie tragen zu Innovation und Fortschritt bei, in Deutschland und der ganzen Welt.

Diese Ressourcen müssen nicht nur heute bereitstehen, sondern auch in Zukunft. Dank Langzeitarchivierung erhalten wir auch kulturelles Erbe, das in Form von historischen Dokumenten, Büchern oder Kunstwerken für die kommenden Generationen bewahrt wird, und wir stellen sicher, dass wertvolle Informationen und Daten über Jahrzehnte hinweg zugänglich bleiben. Gerade in der Wissenschaft ist die Möglichkeit, Forschungsergebnisse zu überprüfen und zu reproduzieren, eine der Grundvoraussetzungen für neue Forschung.

Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.

Isaac Newton in einem Brief an Robert Hooke, 5. Februar 1676

Wie wertvoll Erkenntnisse anderer Wissenschaftler:innen für die eigene Forschung sind, wird durch einen Satz deutlich, den Isaac Newton 1676 an den Universalgelehrten Robert Hooke schrieb: „Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.“ Damit drückte Newton aus, dass sein herausragender wissenschaftlicher Beitrag, etwa im Bereich Gravitation, nur deshalb möglich war, weil er mit seiner Forschung von dem Wissen und den Erkenntnissen der Gelehrten vor ihm profitierte und darauf aufbauen konnte. Das Wissen anderer weiterzuentwickeln, es nachzunutzen – das ist nur möglich, wenn dieses Wissen auch erhalten ist und zugänglich ist.

Über die Jahre hat sich der Zugang zu Informationen und auch die Art der Informationen selbst geändert. Die Bücher und Zeitschriften in den Regalen der Bibliothek werden weniger, Open Access spielt eine immer größere Rolle, digitale Inhalte gewinnen an Bedeutung, darunter Forschungsdaten, Videos und 3D-Modelle. Und genau das ist die Aufgabe der TIB: Wir ermöglichen über verschiedene Plattformen den Zugang zu diesen Materialien. Über unser TIB-Portal sind 143 Millionen Datensätze durchsuchbar, davon über 71 Millionen elektronische Volltexte direkt abrufbar, wovon die Hälfte frei verfügbar ist. Wissenschaftliche Filme finden Sie über unser TIB-AV-Portal und über das Portal twillo werden freie und offene Bildungsmaterialien bereitgestellt.

Und nicht zuletzt ist die TIB nicht nur Bibliothek, sondern auch eine Forschungseinrichtung, die eigene Forschung betreibt – gerade wurde ihr im Audit bescheinigt, dass sie eine unternehmende forschende Bibliothek ist.

Das klingt spannend. Das sind Dinge, an die viele vielleicht nicht denken, wenn sie das Wort Bibliothek hören. Wie sehen Sie die Rolle der TIB in der digitalen Transformation und der zukünftigen Wissens- und Informationsvermittlung?

Die TIB spielt zweifellos eine zentrale Rolle bei der digitalen Transformation und der zukünftigen Wissensvermittlung. Als Forschungseinrichtung entwickeln wir zuverlässige digitale Infrastrukturen, mit denen wir Wissen erschließen, sichern und langfristig verfügbar machen. Wir arbeiten an innovativen Lösungen für die Organisation, Bereitstellung und Nutzung von Wissen, entwickeln und betreiben digitale Dienste und Plattformen, die Forschung und Lehre erleichtern. Dazu gehören auch Repositorien und Werkzeuge zur Datenanalyse sowie kollaborative Tools.

Dazu gehört die Entwicklung des Open Research Knowledge Graph – kurz ORKG. Er trägt dazu bei, mit semantischen Beschreibungen Forschungsbeiträge menschen- und maschinenlesbar zu machen und große Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen zu strukturieren. So werden bislang unbekannte Zusammenhänge sichtbar und neues Wissen kann entstehen. Der von der TIB entwickelte ORKG ist ein zentraler Knotenpunkt für die Organisation wissenschaftlicher Informationen aus Veröffentlichungen und kann Forschenden dabei helfen, einen Überblick über den aktuellen Stand zu bestimmten Forschungsfragen und relevante Beiträge zu ihrem Thema zu bekommen. Das ist angesichts der Flut von Publikationen, die jedes Jahr veröffentlicht werden, auch notwendig und eine echte Unterstützung für die Wissenschaft.

Ein weiteres Thema, das in der TIB eine besondere Rolle spielt, sind Daten, und dabei speziell Forschungsdaten. Welche Herausforderungen sieht die TIB derzeit beim Zugang zu wissenschaftlichen Informationen und Daten?

Forschungsdaten sind für die Wissenschaft von großer Bedeutung. Durch technologischen Fortschritt, Digitalisierung sowie neue und schnellere Verfahren etwa im Bereich Simulation und Modellierung werden heute in kurzer Zeit riesige Datenmengen erzeugt. Auf der einen Seite sind damit große Chancen für die wissenschaftliche Forschung verbunden, denn Forschungsdaten sind wahre Schätze für die Wissenschaft, nicht umsonst spricht man von Daten als Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Das haben wir als TIB früh erkannt.

Schon 2009 gründete die TIB mit Partnern DataCite. DataCite sammelt Forschungsdaten im Netz und macht sie dort für jede:n dauerhaft zugänglich und eindeutig zitierbar – dank der Vergabe von DOIs (Digital Object Identifier). Bis Ende 2022 wurden allein über die TIB 1,7 Millionen DOIs registriert. Schon die schiere Masse der Forschungsdaten ist eine Herausforderung in Bezug auf Organisation, Zugänglichmachung, Speicherung und Archivierung. Einrichtungen wie Bibliotheken arbeiten daran, geeignete Strategien und Technologien für den Umgang mit diesen Datenmengen zu entwickeln, um Daten nach ihrer Entstehung auch optimal nutzen und nachnutzen zu können.

Das hat auch die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz erkannt. Mit der Förderung der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) ermöglicht sie die Nutzung wertvoller Datenbestände aus Wissenschaft und Forschung für das gesamte deutsche Wissenschaftssystem. Denn frei verfügbare und nachnutzbare Daten sparen buchstäblich Zeit und Geld. Mit dem „Rohstoff“ Daten soll die Innovationskraft des Forschungsstandortes Deutschland nachhaltig gestärkt werden. Bei der Umsetzung der NFDI spielt die TIB eine Schlüsselrolle: Sie bringt ihre langjährige Erfahrung im Umgang mit wissenschaftlichen Informationen und Forschungsdaten ein, um eine effiziente und nachhaltige Dateninfrastruktur zu schaffen, sodass der Wert von Daten in der Forschung und für die Gesellschaft maximiert wird.

Nicht zu vergessen sind beim Thema Daten natürlich Fragen der Ethik und des Datenschutzes. Dazu gehört auch die Schulung von Wissenschaftler:innen im Umgang mit und dem Management von Daten.

Neben all diesen Themen an der TIB, ist die TIB aber natürlich auch eine Bibliothek, nicht zuletzt in ihrer Funktion als Universitätsbibliothek für die Leibniz Universität Hannover (LUH). Was zeichnet die TIB hier aus?

Da ist der umfangreiche Medienbestand – gedruckt und digital. Allein in den Regalen an unseren fünf Standorten stehen so viele Medien, dass sie aneinandergereiht eine Strecke von 215 Kilometern ergeben würden. Um sich das einmal bildlich vorzustellen: Das entspricht der Strecke von Hannover bis an die Nordsee nach Cuxhaven. Aber die TIB ist für die Studierenden der LUH vor allem eines: ein Lernort, ein Begegnungsort, ein Treffpunkt. Fast 1.800 Arbeitsplätze gibt es an der Bibliothek: Einzelarbeitsplätze, Gruppenarbeitsräume für gemeinsames Arbeiten und Studienkabinen, die bis zu einer Dauer von drei Monaten gemietet werden können.

Blick von oben auf den Lesesaal, in dem Studierende ans Tischen sitzen und lernen.
Der große Lesesaal am Standort TIB Technik/Naturwissenschaften. Foto: TIB/C. Bierwagen

In Schulungen sowie Workshops zu Themen wie Literaturrecherche und wissenschaftlichem Arbeiten vermitteln die Mitarbeiter:innen vor Ort und online Schlüsselkompetenzen für den Umgang mit Informationen. Sie organisiert den Zugang zu den digitalen Informationen, sodass zu jeder Zeit und von jeden Ort Studierende, Lehrende und Forschende darauf zugreifen können. Leider geht da nicht immer alles, was wir und die Forschenden sich wünschen, nicht alle Anbieter von digitalen Informationen erlauben alles.

Darüber hinaus gibt es auch weitere Themenfelder in der Zusammenarbeit mit der LUH, etwa bei der Beratung zu Open Access für Angehörige der LUH. Warum soll ich Open Access publizieren? Wie publiziere ich Open Access? Wie finde ich seriöse Zeitschriften, in denen ich meine Artikel Open Access veröffentlichen kann? Auch auf diese Fragen haben wir Antworten.

Zum Abschluss: Was möchten Sie den Menschen zum heutigen Tag der Bibliotheken mit auf den Weg geben?

Bibliotheken, also Institutionen wie die TIB, sind nicht nur Orte des Wissens und Schatzkammern kulturellen Erbes, sondern auch Motoren für wissenschaftlichen Fortschritt und Innovation. Als Bibliotheken dienen wir der Forschung und der Gesellschaft, indem wir Zugang zu Informationen ermöglichen. Nutzen Sie diesen Zugang, diese wertvollen Ressourcen, die Bibliotheken bieten, um die Welt des Wissens zu erkunden und zur Entwicklung von Wissenschaft und Technologie beizutragen. Die Menschen, die in Bibliotheken arbeiten und sie besuchen, machen Bibliotheken zu den wertvollen und besonderen Orten, die sie sind – wir alle sind ein Teil davon.

Außenaufnahme des verglasten TIB-Gebäudes.
Der Standort TIB Technik/Naturwissenschaften von außen. Foto: TIB/C. Bierwagen